Ich glaube, Stephen Covey war es, der eine ungewöhnliche Einteilung von kurz-, mittel- und langfristigen Zielen vorgeschlagen hatte. Er verstand als …
- kurzfristig das jeweilige Lebensalter in Wochen,
- mittelfristig das Lebensalter in Monaten und als
- langfristig das Lebensalter in Jahren.
Ich bin zur Zeit 63 Jahre alt, habe nach diesem Schema also
- kurzfristige Ziele von etwa 1 Jahr,
- mittelfristige Ziele von etwa 5 Jahren – also bis 2023! – und
- langfristige Ziele von 63 weiteren Jahren – also bis 2082!!!
Gerade die langfristigen Ziele betrachte ich mit dann einem Lebensalter von 126 Jahren als recht ambitioniert!
Diese Einteilung steht auf jeden Fall im scharfen Kontrast zu unserer Jetztzeit, wo Unternehmen quartalsmäßig Fortschritts-, genauer gesagt: Erfolgsmeldungen!, abgeben müssen – sie dürfen keine Durststrecken haben, sondern müssen von „Erfolg“ zu „Erfolg“ eilen – sind gewissermaßen zum Erfolg „verdammt“!
Da darf man sich dann keine „Winter“ leisten, sondern muss einen „ewigen Frühling, Sommer und Herbst“ präsentieren. Wenn man es ganz genau betrachtet, dann ist der „Herbst“ – die Erntezeit – die Zeit, auf die man sich vor allem konzentriert: Eeeeeeeewiges Wachstum und andauernde Ernte! Wie absurd ist das!
Die andauernde Erntezeit erlaubt keine Kurven und keine Tempowechsel im Fortschrittsprozess – mal aufwärts, mal abwärts, mal schneller, mal langsamer, auch mal Sprünge oder Stillstand bzw. einen Schritt zurück, um den nächsten Sprung vorzubereiten, …), sondern es muss ein unentwegtes lineares Fortschreiten sein – immer nur aufwärts, aufwärts, aufwärts. Damit dies dann auch so präsentiert werden kann, sind „Zahlenkünstler“ in den Organisationen am Werk, welche als Controller den ewigen Fortschritt dokumentieren, damit Analysten und Aktienbesitzer ruhig schlafen können.
Und dies alles in einer Zeit, wo VUKA herrscht, d.h. wo die Vorhersage der nächsten Zukunft immer schwieriger wird. VUKA ist ein Kunstwort und steht für volatil (sprunghaft) – unberechenbar – komplex – ambig (mehrdeutig) … und besser kann man nicht beschreiben, wie Menschen, Organisationen, Gesellschaften und Kulturen die gegenwärtige Situation erleben. Wir leben in einer dynamisch-vernetzten Welt, wo im Heute das Morgen vom Übermorgen überholt wird.
„Prognosen sind schwierig, vor allem wenn sie die Zukunft betreffen“, hat der Komiker Karl Valentin einstmals treffend über Vorhersagen geäußert.
Und dennoch mag man in den Unternehmen nicht auf Ziele verzichten, doch um die nächsten Ziele entsprechend verkaufen zu können, bedient man sich gerne eines sprachlichen Tricks: Die „Ziele 2025“ werden großspurig als „Visionen“ bezeichnet, um einerseits zu verschleiern, dass Prognosen an sich schwierig sind – denn in Visionen steckt so herrlich viel Interpretationsspielraum, da findet jeder etwas für sich. Bedauerlicherweise wird dadurch aber der großartige Begriff „Vision“ entwertet. Und es fehlt oftmals in vielen „Wir werden die Nr.1-Visionen“ die Fantasie!
Dabei brauchen wir in unserer Zeit Visionen dringender denn je – große Lebensentwürfe und Existenzgründe, die weit über das hinausreichen, was wir glauben und uns vielleicht auch selbst zutrauen.
Ich habe für mein Leben großartige Visionen in der Bibel entdeckt, zum Beispiel ganz persönlichen Zuspruch zu Geborgenheit und Vertrauen, als Mutmacher und Trost:
- „Der Herr ist mein Hirte; mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf grünen Auen und führt mich zu stillen Wassern. Er erquickt meine Seele; er führt mich auf rechter Straße um seines Namens willen. Und wenn ich auch wanderte im finsteren Todestal, so fürchte ich kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und dein Stab, die trösten mich. Du bereitest vor mir einen Tisch angesichts meiner Feinde; du hast mein Haupt mit Öl gesalbt, mein Becher fließt über. Nur Güte und Gnade werden mir folgen mein Leben lang, und ich werde bleiben im Haus des Herrn immerdar.“ (Psalm 23)
Oder wenn es im globalen Sinne um Zukunft und Nachhaltigkeit und ein friedliches Miteinander geht:
- „Denn siehe, ich schaffe einen neuen Himmel und eine neue Erde, so dass man an die früheren nicht mehr gedenkt und sie nicht mehr in den Sinn kommen werden; sondern ihr sollt euch allezeit freuen und frohlocken über das, was ich erschaffe; …
Es soll dann nicht mehr Kinder geben, die nur ein paar Tage leben, noch Alte, die ihre Jahre nicht erfüllen; sondern wer hundertjährig stirbt, wird noch als junger Mann gelten, …
Sie werden Häuser bauen und sie auch bewohnen, Weinberge pflanzen und auch deren Früchte genießen … was ihre Hände erarbeitet haben, werden meine Auserwählten auch verbrauchen. …“ (Jesaja 65,17 ff.)
Ist es nicht faszinierend, in solch einem alten Buch derartig großartige und lebendige Zukunftsbilder zu entdecken? Hier finden sich Orientierung und Hilfestellung für viele Lebenssituationen!
Aber zurück in die Gegenwart, zurück zu meinen langfristigen Zielen nach Covey: Obwohl ich mir persönlich fest vornehme, bei guter Gesundheit und geistiger Frische 100 Jahre alt zu werden … sind die Chancen hoch, dass ich dieses Datum 2082 nicht mehr erreichen werde, zumal alle meine Ziele ja mit zunehmendem Lebensalter immer weiter in die Zukunft rücken.
Ist diese Einteilung von Covey damit absurd? Sollte man sie vielleicht schnell wieder vergessen? – Im ersten Augenblick kommt dieser Gedanke manchem in den Sinn – doch wenn man dieses Einteilungsprinzip etwas tiefer durchdenkt, so gewinnt man einige wertvolle Erkenntnisse über sich selbst und das Leben.
Wenn das eigene Erreichen meiner Ziele nicht mehr sicher garantiert ist, so wird mit zunehmendem Lebensalter die Frage nach einer Weitergabe des Staffelstabs wichtig:
- Habe ich überhaupt Ziele, die es wert sind, dass sie über meinen Lebenshorizont hinaus verfolgt werden sollten?
- Und wie kann ich (jüngere) Menschen (wen?) dafür begeistern, diese Lebensziele als ihre eigenen dann aufzugreifen und weiterzuführen?
- Und wie gestalte ich (ab heute!) diesen Transfer-, diesen Übergabeprozess von mir zu anderen?
Ich entdecke in dieser Einteilung ein tiefes ökologisches Bewusstsein. Ökologie meint ja, dass ich verantwortlich mit den vorhandenen Ressourcen umgehen sollte, damit auch zukünftige Generationen davon profitieren können. Wenn ich den Staffelstab einmal weitergeben möchte, dann sollte auch noch jemand vorhanden sein, der ihn übernehmen kann! Das leuchtet unmittelbar ein.
Und mir wird auch bewusst, dass ich meine Lebensaussagen, meine wichtigsten Beiträge zusammenfassen sollte, um mein geistiges Vermögen, mein geistiges Erbe zu bestimmen und zu beschreiben. – Eine interessante, hochspannende Aufgabe für mich in meinem gegenwärtigen Alter!
Um Menschen begeistern zu können, sollten diese Erkenntnisse möglichst einfach sein – mir kommt hier ein Wort von Albert Einstein in den Sinn: „Wenn Du es nicht mit einfachen Worten beschreiben kannst, hast Du es noch nicht gut genug verstanden.“
Noch ein weiterer Gedanke: Wenn man Covey’s Zielkonzept auf Organisationen überträgt, dann hat die Bezugsgröße „Lebensalter“ auch für Organisationen eine Bedeutung für die Planung der nächsten Zukunft.
Wenn ein Unternehmen zum Beispiel damit wirbt, schon 50 oder 60 Jahre alt zu sein – dann drückt das Unternehmen damit auch aus, dass seine Herkunft und sein Werden eine Bedeutung für die Organisation hat.
Ich halte viel von dem Satz: „Zukunft braucht Herkunft!“ – Die eigene Geschichte ist für die Identität, das Selbstverständnis eines Unternehmens – wie auch für das jedes Menschen – wertvoll und sollte in der Gegenwarts- und Zukunftsgestaltung mitberücksichtigt werden.
Arie de Geus hat sich vor vielen Jahren in seinem Buch „Jenseits der Ökonomie“ mit genau dieser Frage beschäftigt, wie Unternehmen langfristig überleben können.
Er beobachtete, dass manche Unternehmen groß wurden, dann von einem Konkurrenten geschluckt wurden und niemand diesen Unternehmen eine Träne nachweinte. Und dann entdeckte er auch andere Unternehmen, die durch tiefe Krisen gingen, sich aber immer wieder neu erfunden hatten und es so schafften, dass sie nicht starben, sondern in sich immer Existenzgründe fanden zum Weiterleben.
Was hatten die einen Unternehmen gewissermaßen in ihrer DNA, was den anderen fehlte? – De Geus ist dabei auf vier Kernfaktoren für ein „lebendiges Unternehmen“ gestoßen, die auf nachhaltiges Wachstum deuten, nämlich
- sensibel für die eigene Umwelt sein – damit lern- und anpassungsfähig bleiben
- Zusammenhalt und Identität pflegen – ein Ich-Bewusstsein haben (im Bayerischen kommt mir da das „Mia san Mia“ in den Sinn)
- Toleranz – und damit die Fähigkeit, gute Beziehungen nach innen und nach außen aufzubauen und zu pflegen … und auch die Andersartigkeit von Menschen oder Organisationen anzuerkennen
- achtsam mit den eigenen Ressourcen umgehen – und damit beim eigenen Wachstum und bei der eigenen Entwicklung nicht von anderen abhängig zu sein (Banken, Kreditgebern), sondern diese selbst in der Hand zu haben.
Letztlich strebt jeder Organismus danach, sich selbst zu erhalten und selbst zu entfalten – das ist Sinn und Zweck jedes Menschen, aber auch jedes Unternehmens.
Warum ist in diesem Zusammenhang die Frage nach der Zukunft für mich so wichtig? – Weil in der heutigen Zeit des stetigen Wandels die Suche nach tragfähigen Existenzgründen für jede Organisation und für jeden Organismus überlebenswichtig ist.
- Wie kann eine junge Organisation wachsen und sich mit den jeweils gegebenen Herausforderungen entwickeln?
- Wie kann eine ältere, erfahrene Organisation sich wandeln ohne dabei ihren inneren Kern – ihre DNA – zu verraten?
- Und was und wie können junge und alte Organisationen voneinander lernen?
Weitere Möglichkeiten eines Transfers könnten sein:
- Was wären – nach Covey’s Einteilung – kurz-, mittel- und langfristige Ziele für Sie als Leser? Wird diese Einteilung ihrer aktuellen Lebens- und Perspektivplanung gerecht? Oder sollten Sie sich hier neu ausrichten? Wenn ja, in welcher Weise?
- Wenn Sie die vier Kernfaktoren eines „lebendigen Unternehmens“ auf Ihr eigenes Unternehmen übertragen – wo ist Ihr Unternehmen stark, wo hat es seine Schwächen?
- Ich bin immer auch ein Freund davon, solche Systematiken auf die eigene Lebenssituation zu übertragen. Ich spiele gerne mit Perspektivenwechseln. Also: Wie schätzen Sie Ihre eigenen Fähigkeiten zum Überleben ein anhand der vier Kernfaktoren? Wie stark ist gegenwärtig ihre persönliche Überlebens-DNA ausgeprägt?
Im Kern geht es bei allen Fragen um die Suche nach Strukturen, Werten und Prinzipien und in der Summe um nachhaltige Formen des Zusammenlebens – wir fassen dies oft als „Kultur“ zusammen. Ein Gefühl zu entwickeln für das, was gerade kulturell abgeht, halte ich für elementar wichtig in der heutigen sprunghaften, verwirrenden und hochkomplexen Zeit.
Eines meiner Ziele für die nächsten Jahre ist, die besonderen Herausforderungen in Kultur und Gesellschaft zu beschreiben, um daraus Ideen und Handlungsempfehlungen abzuleiten, wie wir uns als Einzelpersonen, als Teams, als Organisationen oder auch in Netzen besser behaupten können.