Corona und Burnout – zwei Krisen im Vergleich

Krise ist Krise … und jede Krise ist dennoch einzigartig! 

Ich beschäftige mich schon längere Zeit mit Burnout als Speerspitze einer persönlichen Krise. Doch was kann ich mit meinem bisherigen Verständnis von Krisen und konkret Burnout als Krise für den Umgang mit der aktuellen Corona-Krise lernen?

Fragen nach dem Sinn des Ganzen stellen wir uns unwillkürlich in Situationen, wenn unsere Erfahrungen an ihre Grenzen stoßen: Was passiert hier eigentlich gerade? … und wie kann, soll, muss ich damit umgehen? Und welcher Sinn steckt in dem ganzen Geschehen?

Eine erste Reaktion ist oft, sich auf das bekannte, vertraute Terrain zurückzuziehen – die eigenen Erfahrungen als Bezugspunkt zu nutzen, um von dort ausgehend dann die Krise, das Unbekannte zu verstehen.

Wir versuchen – als Strategie – gewissermaßen durch eine Rückbesinnung auf gemachte Erfahrungen erste Ideen und Lösungen zu entwickeln. Hierbei bewegen wir uns aber immer noch im „normalen Rahmen“ unseres bisherigen Erfahrungshorizonts. Je älter wir sind, desto häufiger wird diese erste Strategie angewandt: Die eigenen Erfahrungen sind unser Schatz … und den wollen wir zur Lösung heranziehen.

Der Neurologieprofessor Elkhonon Goldberg hat diese Strategie in einem prägnanten Satz zusammengefasst: „Jüngere Menschen müssen Probleme lösen, ältere Menschen erinnern sich an Lösungen.“

Diese erfahrungsbezogene Strategie hilft in vielen Fällen, aber immer unter der Voraussetzung, dass der bisherige Rahmen nicht verlassen werden muss. Doch gerade die letzten Jahrzehnte mit ihren gewaltigen technologischen, kulturellen, wirtschaftlichen, klimatischen und gesellschaftlichen Veränderungen zeichnen sich dadurch aus, dass die Welt den bisherigen Rahmen immer häufiger sprengt, unsere Welt gerät mehr und mehr aus den Fugen des bisher Vorstellbaren. Und wir Menschen stoßen immer und immer wieder an unsere Grenzen.

Und nun kommt Corona!

… und zeigt uns unsere Grenzen des Vorstellbaren auf, und zwar in vielfacher Hinsicht!

Ich möchte im Folgenden die Grenzen ausloten und daraus dann einige Empfehlungen ableiten.

Ein guter Ausgangspunkt ist immer, wenn man andere Sachverhalte miteinander vergleicht, um Gemeinsamkeiten und/oder Unterschiede herauszuarbeiten. Man lernt gewissermaßen am Kontrast der aktuellen Corona-Krise im Vergleich mit anderen Krisen, wie zum Beispiel Burnout oder verschiedenen Lebenskrisen, die ich aufgrund meines Lebensalters schon erlebt und durchschritten habe.

Hier bewege ich mich an der Grenze des eigenen Verständnisses, um zu verstehen, was und wie mich das Neue im Denken, Fühlen und Handeln überfordert.

Was ist bei Corona anders?

Corona ist ein Tsunami, ein Erdbeben, das sich nicht mehr mit „den üblichen Messinstrumenten“ ermitteln lässt – es sprengt den normalen Lebensrahmen und sorgt so für ein hohes Maß an Verunsicherung und Orientierungslosigkeit, denn Corona ist ein Schwarzer Schwan [1].

Burnout hingegen ist ein Entwicklungsprozess, der lange im Verborgenen abläuft, dann aber (scheinbar überraschend) umkippt und dann plötzlich als Ereignis da ist und dann eine hohe Aufmerksamkeit verlangt.

Beiden gemeinsam ist, dass vieles unterhalb der Wahrnehmungsschwelle passiert – im Rückblick „erklärbar, nachvollziehbar, einleuchtend“, doch im Erleben fehlen die Sensoren, die Sinne für das, was jeweils abläuft.

Bei Corona erleben wir dabei momentan ein typisches „Hase-und-Igel-Spiel“, wo der Hase „Gesellschaft“ von Meilenstein zu Meilenstein hetzt, doch der Igel „Corona“ schon längst da ist: Mit unseren Sinnen nehmen wir die Infizierten erst wahr, wenn Menschen positiv auf Corona getestet sind, doch das wahre Ausmaß der Gruppe der schon Infizierten ist aufgrund der recht langen Inkubationszeit von 2 – 14 Tagen um ein Vielfaches höher. Wir sind mit unseren Maßnahmen immer zu spät dran, weil wir auch in einer Welt der „normalen Entwicklungsfortschritte“ leben und mit exponentiellen Wachstumssprüngen oft nicht umgehen können. Wir versuchen noch, die Reste unserer Normalität zu schützen (auf ein Bier fortgehen, so lange die Kneipen noch geöffnet haben), wobei der Virus uns heimlich schon längst unterwandert hat. Wir unterschätzen (in dieser frühen Phase) die Geschwindigkeit der Veränderungen und überschätzen unsere Handlungs- und Reaktionsmöglichkeiten.

Bei Burnout läuft kein Hase gegen einen Igel, hier ist es mehr unsere Fähigkeit, uns auf höhere Mehrbelastungen einzulassen: Wir gewöhnen uns daran, immer mehr zu arbeiten, Kompromisse einzugehen, die uns immer höher belasten, unsere Freizeit für Verpflichtungen zu opfern, … und zwar so lange die Belastungen immer weiter zu erhöhen … bis zu einem gewissen Punkt. Doch dann kippt das System plötzlich! Und danach ist es nicht mehr rückführbar, dann müssen wir ein neues Gleichgewicht suchen und finden.

Dieser Burnout-Prozess ist nicht „Hase und Igel“ sondern eher eine Strategie, „wie man einen Frosch kocht“: Man beginnt mit angenehmen Temperaturen im Topf, der Frosch fühlt sich pudelwohl … und dann erhöht man ganz langsam die Temperatur, der Frosch gewöhnt sich an die langsame Erhöhung, er wird schläfrig, die Gefahr ist für ihn nicht präsent, bis ihm schließlich im Topf die Kraft fehlt, noch aktiv selbst herauszuspringen. Er wird gekocht … die Gewohnheit wurde zum Verhängnis!

Wir gewinnen etwas – wir verlieren etwas!

Corona greift unsere Außenbeziehungen an: Der Virus zwingt uns, auf Distanz zueinander gehen, den Kontakt, die Nähe zu meiden – social distancing! Das ist im ersten Moment ungewohnt, die Begrüßungsrituale zu ändern, bewusst größeren Abstand zu halten – das sind kulturelle Höflichkeitsriten, wir merken, wie tief sie in uns verankert sind.

Auch die erheblichen (zeitweilig erforderlichen) Einschränkungen der bisherigen Lebensweise – kulturelle Veranstaltungen besuchen, mobil unterwegs sein, – sind spürbare Begrenzungen, die uns im Alltag als selbstverständlich vorkamen. Jetzt – im kalten Entzug – lernen wir, den Wert dieser Freiheiten zu schätzen. Darüber hinaus zwingt uns die Angst vor möglichen Verlusten in der Zukunft – Verlust des Arbeitsplatzes, der selbstverständlichen Versorgungssicherheit in unserem Lande -, uns auch deren Wert bewusst zu werden.

Doch die Auswirkungen durch Corona sind nicht nur schlecht, sondern sie eröffnen auch Chancen, die wir nicht im Blick hatten. Die Distanz, der mögliche Verlust, die Einschränkungen lehren uns, uns wieder auf das Wesentliche zu besinnen. Wenn der „Wohlstandsspeck“ abgeschmolzen ist, erkennen wir, dass Glück sich nicht auf dem Bankkonto, sondern in den echten Beziehungen untereinander zeigt. Es ist wirklich wahr: Die glücklichsten Völker sind in der Regel nicht die finanziell vermögendsten Völker, sondern die, welche mit ihrem Leben zufrieden sind. In gewisser Weise können wir durch Corona uns wieder bewusst machen, was wirklich zufrieden und glücklich macht.

Corona greift uns mehr in unseren Außenbeziehungen an – Burnout hingegen greift uns in unserer Identität an: Mich haben vor allem die Beschreibungen von Menschen erschüttert, die nach ihrem Burnout von ihrer Entfremdung zunächst zu ihrem Umfeld und dann schließlich zu sich selbst gesprochen haben, dass sie als erstes ihre Beziehungen zu Familien, Freunden, nächsten Bezugspersonen gekappt haben und als letztes dann den Bezug zu sich selbst, zu ihrem Körper, zu dessen Bedürfnissen verloren haben … bis nur noch ein dünner Faden die eigene Identität und den eigenen Körper verbunden hat. Dann erst hatte ihr Körper unmissverständlich sein Recht eingefordert, indem er in den Streik getreten ist und nur noch auf Sparflamme lief … um so die Chance auf einen Neustart zu eröffnen.

Jede Krise braucht ihre Zeit!

Beiden Krisen gemeinsam ist, dass sie sich nicht quasi im Vorüberlaufen erledigen, sondern dass bei beiden Krisen ein langwieriger Abstieg erfolgt – bis tief im Tal der Wendepunkt erreicht ist -, und dass dann ein ähnlich langer Aufstieg auch seine Zeit erfordert.

Wir sehen, hören, riechen den Corona-Virus nicht – mit unseren Sinnen können wir kaum etwas wahrnehmen, vor allem weil ja die Begegnung heute zwischen zwei Menschen ihre sichtbare Auswirkung erst in einigen Wochen haben KANN. Vielleicht ist ja die größte Hürde, dass wir den Sinnzusammenhang zwischen unseren heutigen Handlungen und den zukünftigen Folgen einfach – vom Gefühl her – nicht herstellen können: Wo der Verstand eine mögliche Logik sieht, sträubt sich unser Gefühl.

  • Die Entwicklung in China gibt uns eine Ahnung, wie lange es dauert. Wir müssen davon ausgehen, dass in Deutschland mindestens bis Anfang Juni 2020 der Corona-Virus noch das Gesetz des Handelns bestimmt … bis dahin können wir nur reagieren! Erst dann, wenn alles gut läuft, erst dann werden wir wieder unsere weitere Entwicklung mitbestimmen können.
  • Es gibt keine Abkürzungen auf diesem Weg … und Kompromisse führen zu einer erheblichen Ausdehnung des Zeitfensters. Da sehe ich in unserer freiheitlichen Gesellschaft die größten Gefahren, dass wir nämlich bei ersten Erfolgen sehr ungeduldig werden und die Politiker bedrängen, die engen Fesseln zu lockern.
  • Wir haben nicht gelernt, geduldig zu sein – ganz im Gegenteil:

In der aktuellen Krise gab es Personen, die am letztmöglichen Wochenende (14./15. März 2020) die Chance genutzt haben, um für eine Skitour nach Österreich zu fahren, weil die Pisten so fantastisch leer waren … und das werden die ersten sein, die nach dem ersten Silberstreif am Horizont wieder vorpreschen werden, um sich wieder Vorteile zu erhaschen.

Doch wir können, ja wir müssen diese Krise gemeinsam bewältigen – gerade die Ungeduldigen einzufangen wird dann eine wichtige Aufgabe sein.

Was ist Geduld? 

Ich habe lange gedacht, Geduld sei die Kunst des Wartens – mittlerweile lerne ich, dass Geduld eine Fähigkeit ist, nämlich die Fähigkeit, sich eine gute innere Haltung zu bewahren, während man wartet![2] – Ich denke, unsere Geduld wird vor allem dann auf die Probe gestellt werden, wenn es (gefühlt zu) lange dauert, bis die Einschränkungen sinnvollerweise wieder gelockert werden können. Die Erfahrung mit früheren Krisen zeigt, dass ein zu frühes Lockern der Einschränkungen dann leicht zu einem erneuten Ausbruch führen kann.

Wer oder was ist wirklich systemrelevant?

Welche Berufe sind wirklich wichtig für das Funktionieren unserer Gesellschaft? – Die Krise zeigt deutlich, dass in der Corona-Krise plötzlich nicht die Berufe gefragt sind, wo das meiste Geld gescheffelt wird – Banker, Analysten, Comedians, Influencer, … -, sondern wieder ganz klassisch über die Berufe gesprochen wird, die wir in den fetten Jahren immer sehr stiefmütterlich behandelt haben: Polizisten, Verkäufer, die LKW-Fahrer, vor allem die Pflegekräfte in den Krankenhäusern und Altenheimen, … – jetzt wird sogar schon in der Bild-Zeitung dazu angeregt, diesen „systemrelevanten Personen“ ein Lächeln zu schenken … oder – wie in Italien -, wenn ein ganzer Block den Pflegekräften ein Lied singt und applaudiert.

Systemrelevant – hatten wir da in der Finanzkrise 2008 nicht andere gerettet?!?

Was können wir nun aus der aktuellen Corona-Krise lernen?

Ich weiß nicht, welche Rückschlüsse Sie aus der aktuellen Situation ziehen. Ich für meinen Teil möchte lernen,

  • wenn die Corona-Krise ein Tsunami ist, dann möchte ich sie auch als Tsunami annehmen, d.h. mein berufliches und privates Leben auf den Prüfstand zu stellen und genau zu hinterfragen: Was sollte ich loslassen? Was mitnehmen? Was neu lernen?
  • den Wert eines funktionierenden Beziehungsnetzes zu schätzen. Das ist nicht selbstverständlich, sondern die Basis, um sich wieder neu aufzubauen nach der Krise,
  • mir genauer anzuschauen, was ich in jeder Krise, auch in der Corona-Krise, gewinnen kann. Mit dieser Erkenntnis „ich gewinne etwas – ich verliere etwas“ sorge ich für meine innere Balance, indem ich nicht nur die Verluste, sondern auch aktiv die möglichen Gewinne anschaue,
  • nicht zu trödeln, aber mir die Zeit nehmen, um mein privates Leben und mein Geschäft wieder aufzubauen, auch auf neue Füße zu stellen,
  • Geduld zu lernen – das Warten mit der richtigen inneren Haltung: Da wir weit mehr Zeit im Leben mit Warten verbringen als mit Empfangen, möchte ich lernen, auch die Wartezeit und nicht bloß die Zeit des Empfangens zu genießen,
  • auch den Menschen zu danken, die in der Krise die Hauptlast getragen haben, und mir auch zu überlegen, wie ich ihnen dies zeigen kann.

Soweit mein gegenwärtiger Lern- und Erkenntnisstand.

 

Fortsetzung folgt…

 

[1] Vgl. Taleb 2008: Ein schwarzer Schwan ist ein Ereignis, dass
a. ein Ausreißer ist – es liegt weit jenseits der regulären Erwartungen -,
b. hat enorme Auswirkungen – hier nicht nur auf den Gesundheitsbereich, sondern auch auf Wirtschaft, Gesellschaft und Sport … und
c. kann nur im Nachhinein logisch erklärt werden, nicht aber im Vorgriff auf die Gegenwart und Zukunft.
[2]  vgl. Joyce Meyer 2011, Das Schlachtfeld der Gedanken, 216 + 218.
Vgl. Walter Mischel 2016, Der Marshmallow-Effekt – dieses Experiment zur persönlichen Willensstärke beschreibt, wie schwer Kindern die Entscheidung fällt, ein Marshmallow sofort zu bekommen oder wenn sie bereit sind, einige Minuten zu warten, dann zwei Marshmallows zu erhalten. Hier im Einzelexperiment haben schon viele Kinder lieber ihr Marshmallow sofort verdrückt – als Gesellschaft insgesamt warten zu müssen, ist aber noch eine ganz andere Herausforderung.