Systemsprenger

 

In vielen Organisationen sind Mitarbeiterbefragungen ein Instrument, um die Befindlichkeit der Mitarbeiter kennenzulernen – was sie gut finden, was sie stört – immer mit dem Ziel vor Augen, dann dort Verbesserungen zu bewirken, wo sie sinnvoll und notwendig sind.

Doch dies alles – so habe ich lernen müssen – immer nur im richtigen Rahmen. Wehe aber, wenn der bestehende Rahmen durch die Antworten der Mitarbeiter angetastet oder gar in Frage gestellt wird.

Ich bin vor einigen Jahren auf zwei Fragen gestoßen, die das Potential hatten, die bestehende Unternehmensorganisation wirklich zu hinterfragen und einen intensiven Veränderungsprozess anzustoßen – diese Fragen waren Systemsprenger!

Inhaltlich schienen diese Fragen gar nicht so kritisch, deshalb hatten sie wohl auch den Weg in die Befragung gefunden. Es ging um alltägliche berufliche Situationen, nämlich

  • … wie oft ich als Mitarbeiter im Tagesverlauf bei meiner Arbeit aus den unterschiedlichsten Gründen unterbrochen werde, und
  • … wie stark meine Arbeitsbelastung im Tagesverlauf Schwankungen unterworfen ist aufgrund von ungeplanten und wiederkehrenden Ereignissen.

Die Mitarbeiter hatten ehrlich angekreuzt: „Ja, sehr oft muss ich unterbrechen!“ und „Ja, ungeplante und regelmäßig auftretende Schwankungen sind bei mir die Regel!“

Wenn ich es mir recht überlege, so kenne ich kaum einen Beruf, wo es keine Unterbrechungen und Schwankungen gibt. Diese sind die Regel in der heutigen Berufs- und Arbeitswelt … doch haben wir uns daran wirklich gewöhnt?

Unsere Organisationen tun immer so, als ob die zu erledigende Aufgabenfülle klar zu ermitteln sei (in Stellenbeschreibungen) und somit der Arbeitsplatz für den Mitarbeiter einen definierten Umfang besitze. Soweit die Theorie – doch die Praxis sieht halt ganz anders aus, geprägt von Unterbrechungen und Belastungsschwankungen.

Die Ergebnisse – tiefrot in der Bewertung – sprachen eine klare Sprache: Der Ball lag auf dem Elfmeterpunkt – die Chance für die Führung, hier ein Tor zu erzielen, war riesengroß.

Doch anstatt diese Fragen zum Anlass zu nehmen, als Führung mit den Mitarbeitern in eine offene und ehrliche Diskussion einzutreten, die Situationen und Belastungen in allen Bereichen genauer anzuschauen (also den gegenwärtigen Rahmen!!!) und dann miteinander nach Wegen und Lösungen zu suchen, wie man die Rahmenbedingungen verbessern könnte, hat die Organisation einen anderen Weg eingeschlagen.

Da die Ergebnisse – tiefrot – das Teil-Ergebnis (die Bewertung der gegenwärtigen Organisationstruktur und der Prozesse) und damit auch das Gesamtergebnis der Befragung insgesamt negativ beeinflusst hatten, hat man als Geschäftsführung folgendermaßen reagiert: Die beiden Fragen, weil so schlecht ausgefallen, wurden in der nachfolgenden Mitarbeiterbefragung als lokale Besonderheit in den Anhang verbannt. Dort durften sich die Mitarbeiter dann weiterhin beurteilend betätigen.

Mit dieser Verbannung hatte die Geschäftsleitung schon ein wichtiges Ziel erreicht, nämlich das Teil- und Gesamtergebnis der Befragung substantiell verbessert, ohne dafür irgendetwas aktiv tun zu müssen.

Doch auch als lokale Besonderheit zeigte sich im Ergebnis, dass die Not der Mitarbeiter immer noch ähnlich groß war: „Ja, sie wurden oft unterbrochen!“ und „Ja, die regelmäßig auftretenden Arbeitsspitzen waren immer noch nicht planbar!“

Die Organisation zog die Konsequenzen: In der nun folgenden Befragung hat man diese beiden Fragen dann gar nicht mehr aufgeführt – sie wurden gestrichen.

Die Antworten auf diese Fragen waren ursprünglich ein Geschenk gewesen von den Mitarbeitern an die Geschäftsleitung: „Bitte schaut doch mal mit uns gemeinsam unsere Arbeitssituation an, lässt uns doch nach Wegen und Lösungen suchen, wie wir die Arbeit besser organisieren können!“ – Doch dieses Geschenk wurde nicht angenommen. Die Chance wurde vertan. Schade.

Ich stelle mir angesichts dieser Vorgehensweisen folgende Fragen:

Warum wundern sich Organisationen eigentlich darüber, dass immer mehr Krisen- und Burnoutfälle im beruflichen Umfeld auftreten?
Und wann beginnen sie sich darüber zu wundern, dass noch so viele ihrer Mitarbeiter die Stellung halten und trotz grenzwertiger Belastungen ihr Bestes geben?
Und wann beginnen die Menschen in Organisationen mit einer offenen und ehrlichen Diskussion über die Rahmenbedingungen unserer heutigen Arbeitswelt – also über die bestehenden Rahmen unserer Organisationen und unter welchen Bedingungen die Arbeit getan werden muss? 

Fortsetzung folgt!